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Sandmeer, Kiefernmeer, nichts mehr

 - von einem Irchwitzer, der auszog sein sozialistisches Heimatland verteidigen zu müssen -

 

Kapitel 4 - Ab auf die Zimmer!

 

Ein hässlicher grauer Betonplattenbau erhebt sich inmitten der Kiefernwüste. Hässlich ist natürlich relativ, denn Plattenbauten stehen für modern, insofern haben wir es wohl eher gut getroffen. Aber was heißt in unserer Situation schon gut? Hinter den vielen, scheinbar hunderten von Fenstern sehe ich wieder die Gesichter die uns unbeirrt begutachten. Sie warten schon lange, sehr lange auf uns. Wir sind die Attraktion des Tages. Dieses unbeschreibliche Interesse an uns, ist uns noch ziemlich unbegreiflich. Völlig ohne Orientierung stehen wir in der Nähe der LKWs. Um uns herum sammeln sich immer mehr Uniformierte. Nach wie vor weiß keiner, was ihre Schulterstücke zu bedeuten haben. Eines ist allerdings zu erkennen, umso würdevoller sie schreiten und umso gelassener sie tun, desto höher der Dienstgrad. Sie stehen um uns herum, begutachten uns, schauen auf ihre Listen und wir warten wieder einmal. Eigentlich ist längst Abendbrotzeit, aber das interessiert außer meinen knurrenden Bauch hier wohl niemanden. Die Tarnsäcke mit ihrem undankbaren Inhalt werden abgeladen. Bis wirklich jeder den eigenen erhalten hat, dauert es eine kleine Ewigkeit. Alle wirken müde und kaputt, das Warten macht fix und fertig. Meine ehemaligen Klassenkameraden sind nicht zu sehen. Das fällt mir jetzt erst auf. Sicher werden sie schon an ihrem Bestimmungsort sein, schließlich bin ich ja im letzten LKW angekommen. Die Stimmung ist völlig am Boden, keiner redet. Jeder denkt nach der Devise: Schnauze halten, dann passiert mir nichts! Dieser Eindruck allerdings ist falsch, denn eines ist klar: Hier ist alles perfekt organisiert! Es dauert nur alles etwas, aber Zeit wird in Zukunft mit anderen Mitteln gemessen als bisher gewohnt. Die unbekannten Uniformierten haben ihre Besprechung endlich beendet. Mit wichtiger Miene überblicken sie noch einmal das Heer der Rekruten. Wieder erhebt Oberleutnant Holzmann das Wort: „ Liebe Genossen, sie sind nun am Ort Ihrer Bestimmung angekommen. Das JBG-37 begrüßt Sie aufs herzlichste und wünscht Ihnen für Ihren Dienst beste Schaffenskraft! Sie werden von ihren Zugführen nun auf ihre Zimmer begleitet. Dort werden Sie sich mit Ihren Dienstuniformen bekleiden! Alles weitere erfahren Sie dort.“ Die Zugführer, welche schon parat stehen, grinsen hämisch. Ihre Stunde ist gekommen. „Die Säcke aufgenommen und ab die Post!“ ihre Befehle sind noch nicht ganz exakt formuliert, aber noch sind wir in Zivil gekleidet, das schafft noch etwas Distanz. Einer nach dem Anderen langt nach dem neben ihm stehenden Sack. Unbeholfen versucht man sich in einer nicht ganz exakt definierten Reihe zu formatieren. Alles wirkt lustlos, nur die so genannten Zugführer um uns sind ganz heiß und voller Tatendrang. Wir gehören nun Ihnen und das kann man ihnen anmerken. „Und ab!“ Der Zug setzt sich in Bewegung. Die schweren Säcke lassen die Rekruten torkeln. Es sind nur einige wenige Meter zum Objekt, und trotzdem kommt es mir vor, als wäre der Weg ewig lang. Der Zug aus „Tarnsackträgern“ wälzt sich zum ersten Eingang des grauen Betonblocks. Hinter den Fenstern werden die Beobachter plötzlich aktiv. Die Fenster werden aufgerissen. Einer nach dem Anderen lässt sein Maßband herunter gleiten. Es rollt sich ab und fährt auf sein Ende von 150 Zentimetern. Alle grinsen und freuen sich unglaublich. Noch haben sie mehr als 150 Tage vor sich, aber ein Ende ist für sie absehbar. Für uns fängt das alles erst an. Vorn wird der Zug plötzlich gestoppt, da ein LKW entgegenkommt. Einige haben das nicht mitbekommen und laufen auf ihre Vordermänner auf. Die Zugführer schütteln nur die Köpfe: „So ein Sauhaufen!“. Fast habe ich aber den Eindruck, dass da wohl auch ein wenig Absicht dahinter steckte. Es geht weiter. Nach einigen Metern auf der Betonplattenstraße biegt der Zug links ab und wir schreiten, oder besser taumeln in Richtung des ersten Eingangs des Blocks. An den Fenstern oben ist inzwischen kaum noch Platz. Man drängelt sich in jede freie Lücke und die Maßbänder werden pausenlos nach unten gerollt. Von oben wird laut durcheinander gerufen. Man kann aber auf Grund des Durcheinanders kaum etwas verstehen. Die zügellose Freude derer, die nun schon ein Jahr hinter sich haben ist aber kaum zu übersehen. Einer erhebt seine Stimme über die der Anderen: „Schaut genau hin ihr Aale, euere Maßbänder sind noch so lang, die könnt ihr dreimal ums Haus wickeln!“ Dröhnendes Gelächter tönt aus den Fenstern. Keine Ahnung, was er mit „Aalen“ meint, aber das, was er zur  Länge des Maßbandes sagt, geht mir doch etwas nahe. Schließlich hat er wohl nicht gänzlich Unrecht mit seiner Behauptung. Ich tröste mich mit der Tatsache, dass die schließlich vor einem Jahr auch mal so hier angeliefert wurden. Damals wurden sie sicher auf ähnliche Weise begrüßt. In einem Jahr werde wohl ich dann der jenige sein, der mit dem Maßband rollt. Aber da denke ich vielleicht jetzt besser noch nicht dran. Jetzt heißt es erst einmal die Gegenwart zu überstehen. Inzwischen sind wir an der ersten Eingangstür des ersten Blocks angekommen. Mit dem großen, schweren Sack über der Schulter kommt man kaum zum Eingang hinein. Das Treppenhaus ist an Wänden und Sockel dreckig. Auch hier sind überall schwarze Streifen zu sehen. Der Boden und die Treppenstufen aus Stein sind im Gegensatz dazu allerdings überaus sauber und glänzen, dass man sich fast darin spiegeln kann. Wir schieben uns hinauf in die zweite Etage des Hauses. Durch eine breite Eingangstür gelangen wir in den Flur. Die Zugführer weisen uns an, uns in einer Reihe aufzustellen. Uff, endlich kann man die schweren Säcke wieder von den Schultern nehmen! Wieder einmal stehen wir herum und warten. Warten macht mürbe und gleichgültig. Leise werden private Gespräche geführt, man flüstert fast, um nicht aufzufallen. Die Zugführer tuscheln und tauschen untereinander Listen aus. Plötzlich steht auch der Oberleutnant im Gang. Im selben Augenblick ist Stille, kein Mucks ist mehr zu vernehmen. Wo der Mann auftaucht, ist Respekt angesagt: „Sie bekommen nun ihre Zimmer zugeteilt! Ihre Zugführer verlesen Name und Zimmernummer. Bevor ihre Zugführer allerdings nicht ausdrücklichen Befehl geben, hat noch keiner den Gang zu verlassen! Sie begeben sich anschließend auf ihre Zimmer und entledigen sich ihrer Privatkleidung. Sie erhalten einen Karton, in selbigen werden Sie sämtliche Privatkleidung verpacken und nach Hause schicken. Nun aber nicht zu eifrig alles gleich losschicken, denn morgen werden Sie für Ihren Wehrdienstausweis noch fotografiert und da benötigen wir auch ein Foto von Ihnen in ziviler Kleidung. Sie ziehen also ihre Dienstuniform über und warten auf weitere Befehle. Für Fragen stehen Ihnen unsere Unteroffiziere zur Verfügung, diese werden ihnen auch bei der Einkleidung entsprechend zur Seite stehen!“  Oh, was der Holzmann sagt ist Gesetz, da wagt keiner auch nur einen Hauch eines Widerwortes. Die Zugführer verlesen die Namen in Verbindung mit den Zimmernummern. „Ausbildungskompanie, marsch, ab auf die Zimmer!“ Der Befehl wirkt noch etwas seltsam angesichts der bunten Zivilbekleidung. Hier stehen noch immer Zivilisten, wenngleich auch zum vorerst letzten Male. Nun ist das Durcheinander perfekt. Die Säcke werden wieder aufgenommen und alles läuft kreuz und quer durcheinander um die ihm mitgeteilte Zimmernummer zu suchen. Ich suche. An den Türen sind die Nummern mit Zahlenschablonen aufgemalt wurden. Die Nummer habe ich in der Hektik beinahe vergessen. Irgendetwas mit 300. Aber mit der 3 fangen die Nummern alle an. Wie war das doch gleich…? Vor lauter Aufregung konnte ich mir die Nummer nicht merken. So wie mir ging es vielen anderen aber auch. Hin und her laufen die Rekruten über den Gang um die richtige Nummer zu finden. Die Säcke mit ihrer Überbreite prallen dabei heftig aneinander. Es wird geschimpft und geflucht. Die Uniformierten sind überaus unzufrieden mit der Disziplin, aber noch bleiben sie ruhig. Endlich habe ich das richtige Zimmer gefunden. 324, genau so war es! Während ich mich auf das Zimmer hin arbeite, werde ich mit dem Sack auf dem Rücken einige male hin und hergeschleudert. Egal, mit ein wenig Gewalt drücke ich mich zur Tür herein und stehe plötzlich in dem Zimmer, in dem ich wohl die nächste Zeit wohnen werde. Einige andere Rekruten stehen bereits recht orientierungslos im Zimmer herum. Die Säcke wurden bereits abgestellt. Jeder hält den Zipfel seines Bekleidungssackes noch irgendwie fest. Hauptsache keine Verwechselung! Einer der Zugführer, von dem wir weder Name noch Dienstgrad kennen, kommt zur Tür herein und fragt: „Was denn, noch immer in Zivil? Los Leute, ab in die Dienstuniform, oder wollt ihr heute überhaupt kein Abendbrot mehr essen?“ Das war der Startbefehl. Alle beginnen in den Säcken zu wühlen und finden nach einiger Zeit die lustigen gestrichelten Anzüge. Das Zimmer ist sehr spartanisch ausgestattet. Es stehen 6 Gitterbetten aus grau gestrichenem Stahl darin, Die Matratze ist zu sehen, auch das Kopfkissen liegt blank. Ich muss daran denken, dass mein Vater mir sagte, dass auf die exakte Bettenordnung besonders viel Wert gelegt würde. Das ist nichts für mich. Mein Bett habe ich zuhause immer so gemacht, dass es halbwegs glatt aussah. Meist habe ich es aber vom Bettlaken bis zum Kopfkissen einfach zusammengerollt und in den Bettkasten gesteckt. Noch ist es aber nicht so weit, denn erst gibt es ja wohl mal endlich etwas zu essen. Im Tarnsack wühle ich nach der Uniform. Das grün gestrichelte Ding ist schnell gefunden, aber nun herrscht Chaos im Sack. Alles ist hoffnungslos durcheinander gepurzelt. Gerade habe ich das erste Bein in der Hose, höre ich auf dem Gang eine schrille Stimme: „ Ausbildungskompanie des 37. Jagdbombenflieger- Geschwaders Klement Gottwald angetreten!“ Totale Panik bricht aus. Wie können die jetzt da draußen schon so eine Hektik machen, wir sind doch noch gar nicht fertig angezogen! Irgendwie hat man das Gefühl, dass der Tonfall des Befehls auch etwas schärfer war, als bisher gewohnt. Jetzt war es wohl so etwas wie ein richtiger Befehl. Nun ja, wir tragen jetzt Uniform, wenn auch bisher nur zum Teil. Ich versuche meinen Fuß in das zweite Hosenbein zu quetschen, als der Zugführer, oder was auch immer er hier darstellen will, ein zweites Mal zur Tür hereinkommt. „Habt Ihr keine Ohren, dass war ein Befehl – Raus!“ Jeder greift nach dem was er an Kleidung greifen kann und versucht noch überzuziehen, was geht. Der Gang füllt sich mit Rekruten, welche zum Teil voll bekleidet und zum Teil noch, so wie ich, nicht einmal die Hälfte der Uniform trägt. Ganz schön ungerecht, denke ich, die Anderen waren eher da und hatten mehr Zeit! An Gerechtigkeit allerdings denkt wohl im Augenblick von denen keiner. Man versucht sich in einer Reihe zu platzieren. Die Zugführer richten und schlichten. Oberleutnant Holzmann schüttelt den Kopf: „Genossen Soldaten, schauen Sie sich an, wollen sie so Soldaten der Nationalen Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik darstellen?“ „Nein, will ich nicht – ich muss!“ denke ich trotzig. Diese Meinung behalte ich wohl dann doch lieber für mich. „Sie werden nun wieder auf ihre Zimmer gehen, schauen sich intensiv an, und kleiden sich so, wie es sich für einen Soldaten der Nationalen Volksarmee der DDR gehört!“ Einige wollen bereits auf ihre Zimmer gehen. Da brüllt der Oberleutnant los: „ Habe ich ihnen bereits einen Befehl gegeben, dass sie sich bewegen dürfen?“ Alle zucken zusammen, auch die, die sich noch gar nicht bewegt hatten. „Weggetreten!“ Erneut ist Ratlosigkeit in den Gesichtern zu sehen. Heißt das nun wir dürfen jetzt, oder noch nicht? Die Zugführer  werden ungeduldig. „Los, macht! Ab auf die Zimmer!“ Auf jedem Zimmer ist irgendwo ein Zugführer oder Unteroffizier, der Anleitungen gibt. In kürzester Zeit sind nagelneue Soldatenschulterstücke auf die Uniformjacke gebunden und blütenweiße Kragenbinden an die Kragen der Uniformjacke geknöpft. Man bekommt ordentlich Hektik, noch einmal unvollständig raus treten will wohl keiner. Der Respekt vor dem Kompaniechef ist einfach zu groß. Die olivgrünen Hosenträger werden schnell noch passend eingestellt und die Uniformjacken zugeknöpft, als ein greller, schriller Trillerpfeifen- Pfiff, verbunden mit dem Befehl zum Hinaustreten durch den Gang schallt. Schnell wird das graue Koppel mit dem Ehrenkranz der DDR auf der Vorderseite um die Taille geschnallt und das viel zu kleine Käppi auf den Kopf gesetzt. Diesmal funktioniert es schon etwas besser. Die Reihe schiebt sich in den Gang, doch bis alle zur Ruhe kommen, dauert es noch eine kleine Ewigkeit. Der Oberleutnant ist noch immer sehr unzufrieden, aber wohl doch etwas beruhigt. Mehr konnte er wohl von diesem Sauhaufen ohne Ausbildung erst einmal nicht verlangen. „Genossen Soldaten, sie werden nun in den Speisesaal einmarschieren und dort ihr Essen in Empfang nehmen. Sollte ihnen auf dem Weg dort hin ein Offizier begegnen, besser gesagt ein Bediensteter der NVA, welcher einen höheren Dienstgrad hat als Sie, und das ist fast jeder, so haben Sie die rechte Hand an ihr Käppi zu legen und Ihren Blick in Richtung dessen zu richten!“ Eigentlich sind diese Worte allen völlig egal, Hauptsache es gibt mal endlich etwas zu essen. „Kompanie, rechts um!“ Die meisten drehen sich instinktiv nach rechts, einige sind aber einfach zu aufgeregt und drehen sich nach links. „Können Sie nicht rechts und links unterscheiden?“ Bei den „Falschdrehern“ ist das Herz in die Hose gerutscht. Schnell drehen sie sich zur anderen Seite. „Kompaniiiieeee, im Laufschritt marsch!“ Wie jetzt Laufschritt – etwa rennen? Bevor man richtig zum nachdenken kommt, sind die ersten vorn bereits losgerannt. Es geht links durch die große Eingangstür, und dann die frisch gebohnerten Treppen wieder hinunter. Im Sturmschritt wird Treppenabsatz für Treppenabsatz genommen, dann springt man förmlich zur Eingangstür hinaus. Ein letzter Sprung über den vor der Tür befindlichen Absatz und wir stehen im Freien. Im Hintergrund ist in der Abenddämmerung bereits der beleuchtete Speisesaal zu sehen.

 

 

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